Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB AG) haben das Ideal einer modernen Bildung im herausfordernden Kontext des neu eröffneten Gotthard-Basistunnels exemplarisch umgesetzt: Die innovative Konzeption und Realisation von Bildung, wie sie in einigen Jahren eine Selbstverständlichkeit sein wird – ein heute gelebtes Bild der Zukunft.

Hohe Anforderungen an die Bildung im Spannungsfeld stark limitierender Faktoren

Die zum sicheren, zuverlässigen und pünktlichen Bahnbetrieb im neuen Gotthard-Basistunnel erforderlichen Prozesse sind hochgradig interaktiv, ebenso komplex und zum Teil völlig neuartig im SBB Netz. Entsprechend große Bedeutung hat für die SBB der spezifische Kompetenzaufbau und -erhalt beim betroffenen Personal, und zwar sowohl bei der Erstschulung vor als auch der kontinuierlichen Weiterbildung nach Inbetriebnahme des Jahrhundertbauwerks. Konkret mussten im Rahmen der Erstschulung rund 3.000 SBB interne und 900 externe Mitarbeitende in unterschiedlichsten Rollen an den hochmodernen Systemen, Technologien, Ausrüstungen und in den neuen Prozessen ausgebildet werden. Diese Ausgangslage stellte die Bildung insgesamt vor große didaktische und schulungslogistische Herausforderungen!

Der Gotthard-Basistunnel weist nebst den gigantischen technischen Fakten gleichermaßen beeindruckende Zahlen im Bereich der Bildung aus: Für die Aus- und Weiterbildung wurden rund 90 verschiedene Bildungsprodukte neu konzipiert und entwickelt. Für deren Durchführung waren rund 20.000 Ausbildungstage notwendig, welche in über 1.000 Einzelkursen in deutscher und italienischer Sprache innerhalb eines Jahres durchgeführt werden mussten.
Besonders anspruchsvoll sind dabei die sicherheitsrelevanten Prozessschulungen, welche das ziel-gruppenübergreifende Training von Störungs- und Ereignisfällen im Betrieb des Gotthard-Basistunnels beinhalten.

Die SBB stellt die systematische Erhebung und Entwicklung von berufsrelevanten Kompetenzen bei den Mitarbeitenden als Erfolgskriterium wirkungsvoller Bildung ins Zentrum und definiert damit die Kompetenzorientierung als oberste Maxime ihrer betrieblichen Bildung. Dementsprechend stehen der Aufbau von Handlungskompetenz, die nachgelagerte Sicherstellung des Lerntransfers und die anschließende Festigung der Handlungssicherheit der Mitarbeitenden im Zentrum sämtlicher Bildungsaktivitäten.

Zusätzlich getrieben von den strengen regulatorischen Vorgaben bedeutet dies, dass eine rein theoretische Schulung der Betriebsprozesse des Gotthard-Basistunnels nicht in Frage kommt: Ein Höchstmaß an Sicherheit und deren Nachweis gegenüber den Behörden kann nur in Verbindung mit einer kompetenzorientierten und auf Handlungssicherheit zielenden Ausbildung entlang der relevanten Prozesse gewährleistet werden.
Diese ist aber aufgrund des auszubildenden Personalumfangs, der extrem hohen Diversität der Schulungsinhalte sowie der restriktiven Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten der Tunnelanlage und Systeme für Schulungszwecke starken Limitierungen unterworfen.

Ausbildungsinnovation 3DSim@GBT

Mit dem Ziel, ein leistungsstarkes, flexibles und wirtschaftliches Ausbildungsmittel zu realisieren, mit dessen Einsatz allen identifizierten Herausforderungen adäquat begegnet werden kann, hat sich die SBB für die Entwicklung und den Einsatz einer Gesamtsimulation entschieden.

Als virtuelle Lern- und Trainingswelt aufgebaut, entkoppelt eine Gesamtsimulation die Durchführbarkeit praxisnaher Ausbildung von den zahlreichen Limitierungen die Prozessabläufe im Normal- und Ereignisbetrieb des Gotthard-Basistunnels zielgruppenübergreifend erleb- und trainierbar zu machen. Mit dem Ziel, die Kompetenzlücke zwischen den theoretischen Inhalten und der handlungssicheren Anwendung im Arbeitsalltag zu schließen, kann so ein komplexes, realitätsnah gestaltetes und szenariobasiertes Prozesstraining umgesetzt und ein handlungsorientiertes Lernen effektiv, ressourcenschonend sowie nachhaltig sichergestellt werden.

Geleitet von diesem theoretischen Lösungsansatz, entstand die 3DSim@GBT (3D-Simulation Gotthard-Basistunnel), ein mächtiges Ausbildungsmittel mit sehr hohem Innovationsgrad. Im Endergebnis eine virtuelle, hochinteraktive Lern- und Trainingswelt, bildet sie den gesamten Gotthard-Basistunnel, ausgewähltes Rollmaterial, Arbeitsplätze und Rollen wirklichkeitsnah und mit jeweils maximaler Funktionalität ab. In dieser state-of-the-art 3D-Trainingssimulation ermöglichen Szenario- und Ablauf-Editoren innerhalb der Echtzeit-Betriebssimulation die freie Erstellung von beliebigen einfachen bis hoch komplexen Szenarien und den entsprechenden Übungsabläufen.

Die Schulungsteilnehmer sind in der virtuellen Welt durch Avatare repräsentiert und können sich innerhalb eines Szenarios in ihren jeweiligen Rollen völlig frei bewegen und interagieren. So ist es möglich, besagte Betriebsprozesse mit allen beteiligten Rollen gleichzeitig zu üben. Standardmäßig nicht aktiv hinterlegte Rollen, zum Beispiel Reisende im Zug, werden mittels künstlicher Intelligenz (KI) gesteuert und weisen ein situationsangepasstes, natürliches Aktions- und Reaktionsverhalten auf. Damit kann beispielsweise auch eine Evakuierung von mehreren hundert Reisenden über die Nothaltestellen und Fluchtwege für alle beteiligten Akteure hautnah erlebbar gemacht werden.

Hohe Flexibilität

Die auf allen Ebenen modular konzipierte Anwendung lässt dabei ein großes Anwendungsspektrum zu: Von der handlungsorientierten, durch das System geführten Einzellernanwendung bis hin zur teamorientierten, durch einen Übungsleiter begleiteten Gruppenlernanwendung. Letztere kann die zu trainierenden Kern- und Supportprozesse genau abbilden und kommt damit der Realsituation und dem lernrelevanten Erleben sehr nahe: Unterschiedliche Persönlichkeiten, Mentalitäten, Erfahrungshintergründe und persönliche Handlungsstrategien treffen im konstant ablaufenden Szenario aufeinander. Die Komplexität und Dynamik solcher Übungen werden durch die Abhängigkeit von den im Szenario mitwirkenden Team-Mitgliedern und deren jeweiligen Aktionen gesteigert. Die Simulation bildet zudem die gesamte Umgebungslogik in ihren trainingsrelevanten Auswirkungen ab. So werden beispielsweise beim Eintreten spezifischer Ereignisse bestimmte automatisierte Tunnelreflexe in Form von vordefinierten Beleuchtungs- und Belüftungsszenarien ausgelöst. Zusammen mit den maximal realistischen audio-visuellen Wahrnehmungen, ist der Immersionsgrad für die Teilnehmer insgesamt sehr hoch. So können emotionale Lernerlebnisse mit überdurchschnittlichen Lerneffekten generiert werden.

Komplettiert wird die Anwendung mit zielführenden Steuerungs- und Überwachungsmöglichkeiten im Bereich der Übungsvorbereitung und -durchführung. Abschließend stehen zahlreiche, teilweise automatisierte Analyse- und Auswertungstools für eine qualitativ hochstehende Nachbereitung durch die Fach- und Trainingsspezialisten zur Verfügung.

In der Erstschulung standen die Evakuierungsprozesse im Fokus. Dabei wurden jeweils spezifische Szenarien mit unterschiedlichen Störungs- oder Ereignisfällen – beispielsweise Brand im Reisezug – mit Gruppen von sechs Schulungsteilnehmern in den relevanten Rollen trainiert. Die Schulungsteilnehmer befanden sich dazu in einer speziell dafür eingerichteten Schulungsraumumgebung und wurden von einem Übungsleiter sowie einem Operator durch die sich abwechselnden Übungs- und Theoriesequenzen geführt.

Ein auf allen Ebenen positives Fazit

Verglichen mit herkömmlichen Lernsettings, ist mit der 3DSim@GBT ein Quantensprung in das digitale Ausbildungszeitalter gelungen. Seit Januar 2016 im Ausbildungseinsatz, stößt die hochinnovative Technologielösung und die damit einhergehende neue Lern- und Zusammenarbeitsform bei den Ausbildern und Schulungsteilnehmern auf hohe Akzeptanz und viel Begeisterung. Insbesondere die Erlebbarkeit der Prozesse zusammen mit den anderen Rollen und der daraus resultierende hohe Lerntransfer werden in den Evaluationen jeweils als prioritäre Mehrwerte genannt.
Rückmeldungen aus dem Berufsalltag deuten zudem auf eine gesteigerte grundsätzliche Handlungssicherheit der Teilnehmer in ihrer beruflichen Praxis hin, welche über die mittels 3DSim@GBT trainierten Anforderungssituationen hinausgeht.
Aus didaktischer und lerntheoretischer Sicht übertrifft die Anwendung die qualitativen Erwartungen und eröffnet aus unternehmerischer Perspektive ein großes Potenzial für die gesamte betriebliche Bildung der SBB.

In Summe hat die SBB mit der zwischenzeitlich mehrfach ausgezeichneten 3DSim@GBT ein leistungsstarkes, flexibles und wirtschaftliches Ausbildungsmittel realisiert, mit dem Kompetenzentwicklung ganz dicht an den Erfordernissen der realen Betriebssituation betrieben werden kann.

Autoreninfo: Vormals an der Pädagogischen Hochschule Bern als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Medienbildung tätig, arbeitet Michael Bruderer seit 2012 als Bildungsexperte in der betrieblichen Bildung der SBB AG. Heute leitet er das Kompetenz- und Dienstleistungscenter Bildungsentwicklung der Bildung SBB. Dieses stellt die Entwicklung von Bildungsprodukten sowie die Umsetzung von Bildungsprojekten konzernweit sicher und steuert die Themen Lerndesign & Didaktik als oberste Fachverantwortungsinstanz.